Der folgende Text versammelt einige Überlegungen zur Programmatik des Medientheaters der Humboldt-Universität zu Berlin, die um das Phänomen der technische (re)produzierten Stimme kreisen. Sie wurden erstmals im Rahmen des 14. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft vorgestellt, der von 8. bis 11. November 2018 von der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf ausgerichtet wurde und einem Thema gewidmet war, das weitreichende Überschneidungen mit den Interessen der ästhetischen Forschung im Medientheater aufweist: “Theater und Technik”.

Die Frage “Was ist das Medientheater?”, die am Anfang des Vortrags stand, lässt sich schnell mit einem Bild und einigen kurzen Angaben zu Lage, Ausstattung und institutioneller Anbindung des Medientheaters beantworten:


Anil Rangappa (2018)


Das Medientheater ist ein Theaterraum in der Georgenstraße 47 in Berlin-Mitte, hinter dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität, der zum dortigen Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft gehört. Abgesehen vielleicht von seiner besonders umfangreichen technische Ausstattung mit mehreren mobilen und fest installierten Projektionsleinwänden und einer besonders leistungsfähigen Tonanlage unterscheidet er sich wenig von den Studiobühnen, die sich an vielen theaterwissenschaftlichen Instituten anden. Tatsächlich ist das Medientheater aus der Studiobühne des theaterwissenschaftlichen Seminars der Humboldt-Universität hervorgegangen, nachdem dieses Anfang des Jahrhunderts geschlossen beziehungsweise in ein Seminar für Medienwissenschaft überführt wurde. Im Zuge dieser Neuausrichtung wurde das Medientheater als Projektraum eingerichtet, der vorwiegend Studierenden, gelegentlich auch außeruniversitären Gästen für performative Projekte zur Verfügung steht.

Weit substanzieller als die Frage nach dem Raum — “Was ist das Medientheater?” — ist natürlich jene danach, was die performativen Projekte programmatisch ausmacht, die dort realisiert werden: Was ist Medientheater? Beziehungsweise, und das ist die Frage, die ich auch den Studierenden in den Projektseminaren im Medientheater jedes Semester von Neuem gestellt wird: Was könnte Medientheater sein?


Mediale Urszenen und Medienrevolutionen


Der kategoriale Unterschied zwischen der Frage danach, was etwas sein könnte, und der danach, was etwas ist, lässt sich mit Lambert Wiesing dahingehend auf den Punkt bringen, dass es bei ersterer nicht um “empirische Sachverhalte”, sondern um “prinzipielle Denkmöglichkeiten” geht.1 Es handelt sich um keine historische, sondern um eine philosophische Frage, für die “Geschichte und aktuelle Praxis” daher “allerhöchstens noch ein Hilfsmittel sein” können, da auch “neue, unbekannte, noch unausgearbeitete Möglichkeiten” in Betracht zu ziehen sind.2 Trotzdem lohnt sich für die Beschäftigung mit der Idee des Medientheaters zunächst einmal ein Blick in die Geschichte der Medientechnologie, die nicht zuletzt als Geschichte legendärer Urszenen der Mediennutzung geschrieben wird. Häuag sind das Szenen, in denen technische Systeme Illusionen produzieren, von denen organische Systeme sich täuschen lassen. Bei letzteren kann es sich um Menschen handeln, die bei der ersten öffentlichen Kinovorführung aus dem Saal gohen, weil sie den auf der Leinwand fahrenden Zug für echt hielten — angeblich, muss man sagen, denn wie der Filmhistoriker Tom Gunning belegen konnte, haben derartige Panikreaktionen nie stattgefunden. Bei dem organischen System, das der medientechnischen Täuschung auf den Leim geht, kann es sich aber etwa auch um einen Hund handeln, wie zum Beispiel den berühmten Nipper, welcher der Stimme seines verstorbenen Herrchens am Grammophon lauschte, als sei dieses noch am Leben. Auch diese Anekdote dürfte eine Legende sein, doch das hat Francis Barraud, den jüngeren Bruder des besagten Herrchens, nicht daran gehindert, die Szene in einem Gemälde festzuhalten, das zum Logo verschiedener Plattenarmen wurde.


Francis Barraud (1898)


Eine Aufgabe des Medientheaters könnte nun darin liegen, Reenactments solcher medienhistorischer Urszenen zu erarbeiten. Für das eben genannte Beispiel haben wir das im Juni 2018 versucht. Wobei der Hund in dem daraus entstandenen kurzen Film Dog & Gramophone nicht Nipper heißt, sondern auf den Namen Günther hört — oder auch nicht.


Dog, Gramophone (2018)


Doch es liegt auf der Hand, dass Medientheater mehr leisten kann als derartige Reenactments. Was könnte Medientheater also noch sein?

Einem Medientheater kann eine entscheidende Rolle bei der Regexion der kulturellen Transformationen zukommen, die mit der Ausbreitung und Fortentwicklung technischer Medien einhergehen. Man kann diese Transformationen in eine Reihe stellen mit den Umwälzungen, die im Zusammenhang mit früheren Medienrevolutionen zu beobachten sind, wie der Erandung der Schrift und des Buchdrucks. In diese Richtung argumentiert etwa der Soziologe Dirk Baecker in seinen Studien zur nächsten Gesellschaft aus dem Jahr 2007. Er diskutiert die Auswirkungen der jüngsten Medienrevolution auf verschiedene gesellschaftliche Subsysteme, widmet sich zum Beispiel dem Wirtschafts- und Bildungssystem und eben auch dem Theater, das für ihn zum “Medientheater” wird. Als Beispiele nennt er unter anderem die Live-Filme Caden Mansons und der New Yorker Big Art Group und die Dostojewski-Inszenierungen der Berliner Volksbühne in den Container- Bühnenbildern Bert Neumanns unter der Regie Frank Castorfs (der übrigens an einer Vorgängerbühne des Medientheaters, der theaterwissenschaftlichen Studiobühne der Humboldt-Universität, an seinen ersten Inszenierungen arbeitete).

Allgemein hält Baecker über das Medientheater fest, dass es einen neuen Blick auf etablierte Theatertechniken und -technologien unter den Vorzeichen der Mediengesellschaft wirft:

“Es stellt auf die Bühne, was an elektronischen Medien zu haben ist, und schaut sich an, wie sich Körper und Räume, Stimmen und Gesten jetzt noch bewähren. Es verwandelt sich in ein Medium, in dem ausprobiert werden kann, wie sich das Verhalten des Menschen modiaziert, wenn es mit der Hilfe von Kamera und Mikrofon, Leinwand und Lautsprecher, Licht und Ton unterstützt und unterlaufen, zerlegt und wieder zusammengesetzt, gespiegelt, verzerrt und verschoben wird.”3


Technisch (re)produzierte Stimmen


Unter den theatralen Ausdrucksformen, die Baecker hier aufzählt, haben in den letzten drei Jahren eine Reihe von Projekten, die am Medientheater realisiert wurden, die Stimme herausgegriffen und ins Zentrum gerückt. Sie ist insofern von besonderem Interesse, als bereits Dog & Gramophone deutlich macht, dass im Lauf der Geschichte der technischen Medien — und lange vor den elektronischen Medien, auf die Baeckers Begriff des Medientheaters zunächst beschränkt bleibt — die theatrale Szene unter anderem dahingehend neu formatiert wird, dass sie zu einem Ort nicht mehr nur anwesender, sondern auch abwesender Stimmen wird. Anders gesagt: Sie verortet ortlose Stimmen — die mitunter auch aus der Zeit gefallen sind, wie im Fall von Nippers verstorbenem Herrchen.

Eine neue Dimension zeit- und ortloser Stimmen wird dort erreicht, wo diese künstlich von Computern erzeugt werden. Eine solche computergenerierte Stimme lässt sich auch nutzen, um weitere mögliche Antworten auf die Frage “Was könnte Medientheater sein?” zu präsentierten. Sie wird dann im Hinblick sowohl auf die von ihr übermittelte Information als auch auf den Sprechakt selbst zum Testfall für Medientheater — wie in dem folgenden Soundale, das eine Zusammenstellung von Zitaten enthält. Sie sind einem Konvolut von Positionspapieren, Förderanträgen, Projektskizzen usw. entnommen, die in den Jahren nach der Gründung der Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität im Jahr 2003 für das Medientheater entstanden sind und die heute dessen programmatisches Gedächtnis bilden. Die Zitate stammen von Wolfgang Ernst, Christa Hasche und Sebastian Döring und werden vorgelesen von einer der Stimmen des Apple-Macintosh-Betriebssystems namens Anna:


Audio 1


Zentral für die Positionen, die hier qua Stimmgenerator vergegenwärtigt werden, ist das Postulat, Medientheater mache die Medien selbst zu Akteuren. Ist das auch der Fall, das heißt wird das Medium bereits dann zum theatralen Akteur, wenn die Computerstimme Anna den Lesern dieses Textes — oder, wie beim Vortrag einer früheren Textfassung bei dem Kongress Theater und Technik, dem Tagungspublikum — Zitate vorliest? Man muss das schon allein deshalb verneinen, weil die Leser keine Live-Performance von Anna zu hören bekommen. Das wäre der Fall, wenn keine Aufzeichnung abgespielt, sondern ein Algorithmus den ASCII-Code in Echtzeit in akustische Signale übersetzen würde. Für die Leser beziehungsweise Hörer macht das nicht den geringsten Unterschied, für das Medientheater aber sehr wohl. Weit schwerer wiegt allerdings der Einwand, dass Anna ausschließlich als Sprecherin agiert, ohne etwa auch nonverbale Handlungen zu vollziehen, welche die Transformation eines Alltags- in einen theatralen Raum nach sich ziehen — wie sie im Sinne des Pioniers der Berliner Theaterwissenschaft Max Herrmann notwendig ist, um überhaupt von Theater sprechen zu können.

Ein Beispiel für eine Performance, die das Medientheater selbst als Urheber solcher nonverbaler Transformationshandlungen vorstellt, ist die Arbeit R_a_u_m_STRNG, die dort im Juli 2016 von den Medienwissenschaftsstudentinnen Friederike Seehase und Cathrein Unger im Rahmen der Präsentation “Konzept Medientheater I” gezeigt wurde. Zunächst einmal wurde in R_a_u_m_STRNG das Medientheater zum sprechenden Akteur, der sich die Worte Michel Foucaults aneignet, um seinen eigenen räumlichen Status zu regektieren. Hier der an dieser Stelle projizierte Film:


Friederike Seehase, Cathrein Unger (2016)


Darüber hinaus wurde das Medientheater in der Performance aber nicht nur zum Sprechen gebracht. Zusammen mit der in ihm installierten Technik agierte es auch nonverbal im und als Raum. Es durchlief einen Prozess der fortwährenden sinnlosen Bewegung verschiedener Projektionsleinwände, auch wenn diese überhaupt keine Projektionen zeigten, während eine Armada von Scheinwerfern immer wieder in verschiedenen Farben aufblitzten, was schließlich in erratischen Stroboskopblitzen endete. Durch dieses surreale Geschehen transformierte das Medientheater den Raum, der es selbst ist, von einem Raum des universitären Alltags, in dem etwa auch Vorlesungen und Konferenzen stattanden, in einen theatralen Raum der ästhetischen Entgrenzung.


Stimme und Information


Medientheoretisch betrachtet und mit den Begriffen des Kommunikationsmodells von Claude Shannon und Warren Weaver formuliert ist der bedeutsamere Aspekt von Stimmen allerdings einer, der in den bisher genannten Beispielen überhaupt nicht zur Sprache kam: nicht die durch die durch die Stimme übermittelte Information, sondern der Kanal, in dem diese übertragen wird — und der Noise, der dabei auftritt. Für solche Störgeräusche hat Theodor W. Adorno in seinem Entwurf einer Radiotheorie — im amerikanischen Exil auf Englisch verfasst — den schönen Begriff “hear stripe” geprägt. “Even if the set is functioning properly, the electric current can be heard when it is tuned in”, schreibt er, und vergleicht diese Form des Noise mit den Störstreifen, die bisweilen im Filmbild auftreten.4 Die Hear Stripes sind ein Wahrnehmungsphänomen, das in erster Linie als Rauschen im Kanal zu hören ist, wenn kein Ton übertragen wird, und ansonsten hinter diesen zurücktritt, aber auch dann wahrnehmbar bleibt: “It may not attract any attention, and it may not even enter the listener’s consciousness; but as an objective characteristic of the phenomenon it certainly plays a role in the apperception of the whole, and will be effective unconsciously”5 — ein Akustisch- Unbewusstes, das Adorno ins Bewusstsein der Mediennutzer holen will. Er plädiert dafür, die Aufmerksamkeit beim Radiohören auch auf die Hear Stripes zu lenken, um wie Ute Holl hierzu formuliert, “den Prozess der Übertragung mitzuhören”.6

Die Medienpraxis, für die Adorno sich ausspricht, kann als Entwurf eines Medientheaters gelten — zumindest im Hinblick auf dessen Umgang mit Stimmen. Nicht die Stimmen selbst werden zum Gegenstand der Aisthesis, sondern die Hear Stripes, die im Zuge ihrer technischen Reproduktion auftreten — nicht die Information, sondern das Medium im Sinne der materiellen Bedingungen der Transmission von Information. Das ist eine Prämisse im Sinne der Medientheorie und ihres Gründungsslogans “The medium is the message”. Denkt man sie medientheoretisch zu Ende, dann gehören nicht nur die materiellen Bedingungen der Transmission stimmlicher Information zum Gegenstand des Medientheaters, sondern auch die von deren Artikulation.

In dieser Hinsicht liegt eine gewisse Ironie darin, dass nicht zuletzt die saubere Artikulation des Vaters der Medientheorie für deren Anfangserfolg in den 1960er Jahren verantwortlich war: Marshall McLuhan — dessen Mutter als Sprecherzieherin arbeitete und der seine akademische Karriere unter anderem mit Forschungen zur Renaissance-Rhetorik begonnen hatte — beeindruckte durch seine geschliffene Aussprache, was ihn zum idealen Gast in Radio- und Fernseh-Talkshows machte, in denen er seine Ideen regelmäßig verbreitete. Wenn McLuhan zum Beispiel wie hier am 1. Juni 1966 in der Sendung Perspective des Radiosenders Voice of America am Beispiel der Malerei Paul Cézannes darlegt, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Dominanz des Visuellen in der westlichen Kultur zu bröckeln beginnt, so zieht er mit seiner professionellen Aussprache die Hörer allein durch seine Stimme in seinen Bann — wodurch die These von der Aufwertung des Hörsinns im Vortrag qua Medien-, genauer gesagt Radiotechnologie performativ bestätigt wird. Allerdings lässt uns McLuhans ausgereifte Stimmperformance vergessen, dass das Medium der Stimme, die wir hier hören, nicht nur die Materialität der Transmission, sondern auch die der Artikulation, nicht nur die Hardware des Radioapparats, sondern auch die Wetware des menschlichen Stimmapparats umfasst. Wir hören nur die Hear Stripes im Radio, nicht aber die in der Stimme selbst. Medientheater sind die Auftritte des Vaters der Medientheorie daher nicht.

Ein Gegenmodell hierzu andet sich in den Performances des Berliner Ensembles Maulwerker. Von dessen Gastauftritt im Medientheater der Humboldt-Universität im März 2016 liegt kein Mitschnitt vor, doch beispielhaft sei hier auf die Komposition zunge lösen des Maulwerker- Mitglieds Christian Kesten verwiesen, “eine Komposition für Zunge, gelegentlich durch hörbaren Atem kontrapunktiert”, dessen akustische Komponente in der Aufnahme der Interpretation von Serge Vuille and Guy-Loup Boisneau besonders gut zu hören ist:


Serge Vuille, Guy-Loup Boisneau (2016)


Die Stimme des Medientheaters


Indem Arbeiten wie die der Maulwerker gerade nicht Medientechnologie auf die Bühne stellen, legen sie den Entwurf eines Medientheaters vor, das Baeckers These entspricht, wonach letzten Endes die Menschen das Medium sind, das bei dieser Form des Theaters auf den Prüfstand gestellt wird — in diesem Fall als menschlicher Körper. Auch das ist eine Antwort auf die Frage, was Medientheater sein könnte. Wenn dort, wie Baecker weiter schreibt, “der Mensch, eingefasst zwischen den beiden Polen des bloßen Lebens und der überdeterminierten Geselligkeit,”7 zum Medium der Gesellschaft wird, dann deswegen, weil das Medientheater auslotet, wie der Mensch im Angesicht autonomer Informationstechnologien “seinen privilegierten Ort und Status verliert”8 und diesen Technologien als prekäres bloßes Leben im Sinne Michel Foucaults und Giorgio Agambens gegenübertritt. Selbstverständlich ist dabei auch die Nivellierung dieses Lebens eine prinzipielle Denkmöglichkeit — um noch einmal Wiesings Bestimmung unseres Fragehorizonts aufzugreifen — des Medientheaters. In diesem Sinne kann man die Arbeit I Am Sitting in a Room des Klangkünstlers Alvin Lucier (erstmals 1969 aufgenommen, hier in einer Aufnahme von 1981 zu hören) als Beispiel dafür nehmen, wie sich die theatrale Aufmerksamkeit so weit von der Materialität des menschlichen Körpers und der von ihr produzierten Stimme ablenken lässt, dass diese als Gegenstand der Aisthesis verschwindet und am Ende nur noch Hear Stripes übrigbleiben.

In seiner legendären Performance spricht Lucier zunächst einen gut einminütigen Text auf Tonband. Dann spielt er die das Aufgenommene über Lautsprecher ab, zeichnet die Wiedergabe erneut auf, spielt die Aufzeichnung wieder ab, nimmt die erneute Wiedergabe wieder auf usw. usf. Der Raum, in dem all das stattandet, besitzt wie jeder andere Raum auch speziasche akustische Eigenschaften, die — zusammen mit Mikrofon, Tonbandgerät und Lautsprecher — dafür verantwortlich sind, dass bei jedem Zyklus aus Aufnahme, Wiedergabe und erneuter Aufnahme der Wiedergabe bestimmte Frequenzen verstärkt, andere gedämpft werden. Durch die fortgesetzte Wiederholung des Zyklus wird der Effekt immer weiter verstärkt. Das hat zur Folge, dass der gesprochene Text mit jeder Iteration schwerer verständlich und allmählich von Noise ausgelöscht wird. Zwar ist er noch bei der zweiten Iteration (wenn man die Aufzeichnung der ersten Wiedergabe als erste Iteration zählt) deutlich zu verstehen, obwohl die Stimme dumpfer klingt als in der Ursprungsaufnahme. Doch bereits bei der achten Iteration sind keine Worte mehr auszumachen. Es lässt sich lediglich noch erahnen, dass der Aufnahme ursprünglich eine menschliche Stimme zugrunde lag. Bei der 16. Iteration ist auch das nicht mehr zu erkennen.

Ähnliche Effekte wurden im November 2018 bei einem Versuch erzielt, bei dem Luciers Performance ins Medientheater verlegt und statt eines Tonbands ein digitales Aufzeichnungsgerät zum Einsatz kam. Der Originaltext wurde durch die oben eingebettete Collage aus Zitaten aus dem programmatischen Gedächtnis des Medientheaters ersetzt, die von der Computerstimme Anna vorgetragen wurde. Wie Lucier klang auch Anna bei der zweiten Iteration deutlich dumpfer, war aber noch deutlich zu verstehen:


Audio2


Bereits bei der achten Iteration war allerdings keine (Computer-)Stimme mehr zu erkennen:


Audio3


Wenn bei dieser Adaption von Luciers Performance theatrale Transformationsprozesse in Gang gesetzt wurden, dann nicht durch die Stimme von Anna, sondern durch deren allmähliche Auslöschung, betrieben durch das Medium — die Verschaltung von Resonanzraum, Mikrofon, Aufnahmegerät und Lautsprecher. Insofern kann diese Aufnahme als Dokument einer Performance des Medientheaters verstanden werden, in dem tatsächlich das Medium zum Akteur wird. Die ursprüngliche Information — der von Anna gesprochene Text — ist dabei vollends verschwunden. Was stattdessen zu hören ist, kann man als reinen Noise, als reinen Hear Stripe begreifen, der die Stimme ausgelöscht hat. Man könnte aber auch sagen, dass es eine ganz andere Stimme ist, die wir hören — die Stimme des Medientheaters. Und man könnte sie als Stimme begreifen, die wesentlich aussagekräftiger auf die Frage antwortet, was das Medientheater ist, als es das oben eingebette Bild tut — und die eine weitreichendere Antwort auf die Frage gibt, was Medientheater sein könnte, als die vorangegangenen Ausführungen.


15.01.2019 (überarbeitete Fassung) 


1. Lambert Wiesing, “Was könnte ’Abstrakte Fotograae’ sein?“, in: Martin Roman Deppner/Gottfried Jäger (Hg.), Denkprozesse der Fotograae. Die Bielefelder Fotosymposien 1979-2009. Beiträge zur Bildtheorie, Bielefeld: Kerber 2010, 300-313, 300.

2. Ebd., 301.

3. Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 81.

4. Theodor W. Adorno, Current of Music. Elements of a Radio Theory, Frankfurt a.M. 2006, 174.

5. Ebd.

6. Ute Holl, “Zukünfte des Radios”, in: Der Ohrenmensch. Bühne des Hör-Wissens [Programmheft zur Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung Radiophonic Spaces], Berlin: Haus der Kulturen der Welt 2018, 6.

7. Baecker, 96.

8. Baecker, 95.